Dienstag, 8. November 2016

EGMR: Schweiz - Kindeswohl ungenügend abgeklärt


EGMR: Schweiz - Kindeswohl ungenügend abgeklärt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt die Schweiz

Das Bundesgericht hat das Gesuch eines Vaters um Nachzug seines ägyptischen Sohnes nicht ausreichend abgeklärt. Zur Regelung des Familiennachzugs an sich äussert sich der Strassburger Gerichtshof nicht.
katharina fontana
Die Schweiz hat einem ägyptisch-schweizerischen Doppelbürger unrecht getan und ihn in seinem Recht auf Familienleben verletzt. Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der aus Ägypten stammende Mann, der heute 64 Jahre alt ist, hatte 1997 vergeblich um Asyl in der Schweiz ersucht. Nach der Heirat mit einer Schweizerin 1999 erhielt er eine Aufenthaltsbewilligung, 2004 wurde er eingebürgert. 2006 wollte er seinen aus einer früheren Ehe stammenden, fast 16-jährigen Sohn, der in Ägypten bei der Mutter lebte, in die Schweiz holen; der Jugendliche hatte bereits früher mehrere Monate beim Vater in der Schweiz gewohnt, war von diesem aber wegen Problemen mit der Stiefmutter und in der Schule wieder nach Ägypten zurückgeschickt worden.
Das Bundesamt (heute Staatssekretariat) für Migration sprach sich gegen den nachträglichen Familiennachzug aus; die Voraussetzungen dafür seien nicht gegeben. Der ablehnende Entscheid wurde vom Bundesverwaltungsgericht wie auch vom Bundesgericht im Jahr 2010 gestützt; damals war der ägyptische Sohn bereits 20 Jahre alt. Begründet wurde dies zur Hauptsache damit, dass der junge Mann viel engere Beziehungen zu seinem Heimatland habe als zur Schweiz und dass das Verhältnis zum Vater nicht vorrangig sei. Auch fiel ins Gewicht, dass der Vater das Gesuch um Familiennachzug nicht sofort nach seiner Ankunft in der Schweiz gestellt, sich also seinerzeit nicht um ein Zusammenleben mit dem Sohn bemüht hatte.
Der EGMR kommt nun zum Schluss, dass das Bundesgericht die Frage, was im besten Interesse des Sohnes liege, nicht genügend abgeklärt habe. Es habe seinen Entscheid nicht ausreichend begründet, sondern zu summarisch argumentiert, hält der EGMR in seiner schlanken Urteilsbegründung fest. Die Schweiz muss dem Beschwerdeführer nun 8000 Euro Genugtuung und 2000 Euro für Auslagen bezahlen.
Interessant am Strassburger Entscheid ist weniger, was in der Begründung steht, als das, was nicht erwähnt wird. So war im Vorfeld der Urteilsverkündung spekuliert worden, dass der Gerichtshof das Schweizer System des Familiennachzugs grundsätzlich kritisieren könnte. Dies, weil EU-Bürger gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen ihre Kinder aus Drittstaaten bis zum Alter von 21 Jahren in die Schweiz holen können, Schweizer dagegen nicht. Doch zu dieser Inländerdiskriminierung, die auch hierzulande zu reden gegeben hat, steht im Strassburger Urteil nichts.
Urteil 56971/10.

http://webpaper.nzz.ch/2016/11/09/schweiz/PC1BO/kindeswohl-ungenuegend-abgeklaert

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